Kunst im öffentlichen Raum

Kunst im öffentlichen Raum
Brunngasse 46
3011 Bern

A propos de l'organisation

Kunstprojekt des Künstlers Christian Ratti

Christian Ratti - Ein Frosch bedeutet mir mehr als ein abstraktes Bild

Müller: In deiner Abschlussarbeit an der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich hast du Besucher/innen durch das Treppenhaus am Shilquai geführt und auf unscheinbare Dinge hingewiesen. Das Zeigen bleibt ein wichtiges Element in deiner Arbeit.

Ratti: Diese Turmführungen waren für mich ein Schlüsselmoment: führen und zeigen statt ausstellen. Damals waren die Platzverhältnisse beschränkt, anlässlich der Abschlussausstellung habe ich mich deshalb für eine Präsentation im Treppenhaus entschieden. In einem vorbereitenden Arbeitsgespräch hatte ich Daniel Kurjaković von meinen Entdeckungen im Treppenhaus erzählt. Ich hätte diese Dinge fotografieren und an die Wand hängen können, fand dies jedoch absurd. So entstand die Idee einer Führung. Von da an ging es los.

Arbeiten in und mit Lebensräumen

Müller: Du interessierst dich für Lebensräume, seien sie von Tieren oder von Menschen. Dabei stehen weder ein naturwissenschaftliches Raumverständnis noch ein primär formales Interesse am Raum im Zentrum. Die Räume, die dich interessieren, sind belebt von sozialer, emotionaler und ökologischer Interaktion und du lenkst die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt. 

Ratti: Für den Begründer der Spaziergangswissenschaft Lucius Burkhardt ist ein Spaziergang ein Erlebnis. Es ist eine bestimmte Art, etwas wahrzunehmen, und dieses ist kulturell geprägt und wandelbar. Sein Ansatz war, Dinge neu und anders anzuschauen. Hier sehe ich eine grosse Verwandtschaft zu meiner künstlerischen Arbeit. 
Im Kunsthaus Langenthal habe ich einen Zettel hinterlassen, auf dem steht «Bin gleich zurück». Ich verstehe die Ausstellung als toten, unheimlichen Raum. Mit ­Humor versuche ich, Lebenswärme hineinzubringen bzw. den Mangel offenzulegen. Lebendigkeit ist mir wichtig. Die Spaziergangwissenschaft bietet eine Ergänzung zum kartografischen Raum von Stadtplanern: gemeinsames Erkunden unserer Lebenswelt - dabei die Beine zu bewegen, ist wichtig.

Müller: Ein Spaziergang kann auch einfach touristisch sein. Dabei stehen die sublimen, visuellen Erscheinungen in der Landschaft im Vordergrund und der Raum wird zu einem Bild. Deine Arbeitsweise scheint mir jedoch einen anderen Blick einzunehmen. 

Ratti: In Chur hätte ich es fast geschafft, dass ein Dolendeckel der Giesserei Chur während der offiziellen Touristenführungen erwähnt wird. Meist gelten meine Hinweise Dingen, die landläufig als zu wenig bedeutend erachtet werden. Vielleicht sind sie das auch - als Künstler nehme ich mir aber die Freiheit, in die Rolle des Stadtführers zu schlüpfen, der die «Bilderrahmen» frech und eigensinnig setzt. Würdigung mit einer Prise Ironie. Mit Gleichgesinnten versuche ich - wie von Boris Groys in der ‹Kulturökonomie des Neuen› beschrieben - Dinge, Orte und Wesen des «profanen Raums ins kulturelle Archiv» zu bringen: Dolendeckel, die Nagelfabrik, die Porzel­lanfabrik, kleine Wildtiere oder (lacht) die Zeitung von gestern, die vom benachbarten Restaurant in Langenthal täglich ins Kunsthaus gelangt. Raphael Dörig, Direktor des Kunsthauses, meinte, ich sei wohl der Einzige, der in Langenthal wie ein Tourist mit einem Fotoapparat herumläuft. Langenthal ist ein interessanter Ort für Streifzüge zur Frage, wie sich Industrie, Landwirtschaft, Wohn- und Naturraum verbinden lassen. Was ist wertvoll? Was soll und kann wie geschützt oder gefördert werden?

Partizipation ist inspirierend
Müller: In den bisher zu deinen Projekten erschienenen Artikeln wird oft der Werkstatus thematisiert. Also die Fragen, wo das Werk anfängt und wo es endet. Oder anders gesagt, was an deiner Arbeit Kunst ist. Was meinst du dazu?
Ratti: Ich bin für Entgrenzung. Die Welt ist fragmentiert in Räume und soziale Netzwerke. Diese bleiben oft getrennt und ich möchte sie verbinden. Bei den Alpenseglern im Dach denke ich auch an ihre Flugreise nach Afrika. Von dort war es dann nicht mehr weit zur Safari meiner Grossmutter in den Siebzigerjahren. Faktisch in der Ausstellung vorhanden sind ein Nest, zwei Eier, ein Projektor, ein Dia und noch einige kleine Dinge. Grenzen sind interessant, da halte ich mich gerne auf und suche Verbindungsmöglichkeiten. Hier werden meine Einmischungen und Tauschereien aktiv. Wir können oder müssen die Welt sortieren: billig/teuer, gross/klein, Garderobe/Ausstellungsraum, bedeutungshaft/banal usw. Ich fabuliere da rum.

Müller: Welche Rolle spielt Partizipation in deiner Arbeitsweise? 

Ratti: Sie ist vor allem Inspiration. Die Arbeit ‹Kleines Flugzeug aus dem Prime Tower› entstand beispielsweise, weil die Künstlerin Isabelle Krieg, die mit ihrer Arbeit ‹Tapfere Blumen› in der Sammlung der Deutschen Bank im Prime Tower vertreten ist, mich an die Eröffnung mitgenommen hat. Ich bin ein wenig in den Räumen rumgelaufen, bin auf einige Bankangestellte zugegangen und habe versucht, etwas über ihre Arbeit zu erfahren. Ich habe gefragt, ob man die Fenster wirklich öffnen könne. «Na klar, da können sie sogar einen Papierflieger rauswerfen», hiess es. Und dann wollte ich das unbedingt machen. Das ist für mich Partizipation. Ich bin neugierig, tausche mich aus, und daraus entsteht etwas. In der Ausstellung in Langenthal sind viele Kooperationen und Einladungen zum Mit- oder Nachmachen anzutreffen: bspw. einen Baumstamm für den Alpenbock aufzustellen, Amphibienleitern in Schächte einzubauen, gemeinsam abzustimmen, eine Reise nach Karlsbad zu unternehmen.

Frösche, Kläranlagen und Porzellan 

Müller: Aus der Beschäftigung mit Kanaldeckeln ist zusammen mit deinem Büro für Wildtierarchitektur ein interdisziplinäres Kompetenzbüro entstanden. Dieses entwickelt «ortsspezifische bauliche Lösungen zur Förderung der faunistischen Vielfalt in Stadträumen». Wie kann sich künstlerisches Denken in einen solchen Prozess einbringen? 

Ratti: Ich kann hartnäckig und doch beweglich Wege suchen, indem ich möglichst störungsfrei in vorhandene Strukturen interveniere, aber manchmal auch freche Ideen einbringe. In der Fürsorge für Wildtiere gerieten Simon Gaus - Studienkollege, Amphibienschützer und engagierter Betreiber unseres Büros für ‹Wildtierarchitektur› - und ich als Künstler unweigerlich in Kompetenzüberschreitungen. Simon wollte deshalb Expert/innen ins Boot holen und hat das geschafft. Wir versuchen zu forschen, zu entwickeln und sind dabei konkret und pragmatisch. Im Klärwerk Werdhölzli in Zürich entwickelten und realisierten wir erstmals ein umfassendes Ausstiegssystem für Amphibien. Bis anhin verendeten die aus dem Kanalnetz angeschwemmten Tiere in der Anlage. Durch unsere Leitern können sie nun gerettet werden, jährlich etwa 5000 Amphibien! An den meisten Orten stellen Entwässerungssysteme für Kleintiere nach wie vor ein Problem dar, auch in Langenthal oder Küssnacht und Gottlieben, wo ich im Rahmen von Kunstprojekten anklopfte. Erfreulicherweise habe ich eine Schulklasse in Langenthal gefunden, die im Frühling Spurentunnel aufstellt. Diese wurden
von Biologen entwickelt, um das Vorkommen von (scheuen) Wildtieren nachweisen zu können. Anhand der Spuren, welche die Tiere beim Durchlaufen des Tunnels auf einem Papier hinterlassenen, kann oft die Art bestimmt werden. So kann ich unterschiedliches Wissen und Denken zusammenbringen. Auch meine neuen Kontakte über meine Partnerin in Berlin zu Wikipedia Deutschland und Citizen Science stimmen mich diesbezüglich optimistisch.

Müller: Findest du, die Kunst sollte Lösungsvorschläge für aktuelle gesellschaftliche Probleme bereitstellen?

Ratti: Ja, warum nicht. Vorschläge, Experimente, Spiele und Fragen, die das Leben interessant machen. Möglichkeitsräume. Und: Ein lebendiger Frosch bedeutet mir persönlich mehr als ein abstrakt expressionistisches Bild im Museum.
Die Gruppenreise nach Karlsbad zum heutigen Produktionsstandort der Porzellan­fabrik Langenthal AG ist eher ein Experiment als ein Lösungsvorschlag. Im Gespräch mit einem Kenner der Firmengeschichte entstand die Vorstellung, dass sich mit der Reise ein Kreis schliesst, kamen doch die ersten Fachkräfte 1906 aus dem damaligen Böhmen nach Langenthal. Einen farbigen Kreis - der dann eingebrannt wird - kann jede/r Mitreisende auf einen drehenden Teller malen. Die Farbe kann man sich aussuchen. Die Pigmente stehen in grosser Auswahl in Töpfen in der stillgelegten Fabrik in Langenthal bereit. Eine gelernte Porzellanmalerin hilft uns dabei. 

Müller: In Langenthal warst du gezwungen, deine projektorientierte Arbeitsweise in eine Ausstellung zu übersetzen. Das ist keine leichte Aufgabe und du hast dich für ein über die Institution hinausgreifendes, wucherndes Ensemble entschieden. Bist du zufrieden mit der Umsetzung? 

Ratti: Ja. Wir hatten meist Freude am Aufbau und improvisierten mit Fundsachen aus dem Haus und der Porzi. Noch möchte ich einiges verbessern. Auch möchte ich den Besen wiederfinden und zurückbringen, der an der Eröffnung noch im Raum «industrielles Erbe» stand.

Pablo Müller, Kunstkritiker und Kunsthistoriker, lebt und arbeitet in Zürich. pablomueller@gmx.net

Finissage mit Führung von Christian Ratti, 3.4., 11 Uhr; Gruppen­reise nach Karlsbad vom 5.–8.5., ­Anmeldung über das Kunsthaus Langenthal
Christian Ratti (*1974, Scuol) lebt in Zürich und Berlin 

Lehre und Arbeit als Goldschmied in Chur und Zürich
Studium der Bildenden Kunst, Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK

Ausstellungen und Kunstprojekte
2016 Kunsthaus Langenthal
2014 Cabaret Voltaire, Zürich; Schaukasten, Herisau; Bex & Arts, Bex
2012 Projektraum K3, Zürich
2011 Bex & Arts, Bex; Kunstmuseum Solothurn
2009 Fundaziun Nairs, Scuol; Ausstellungsraum Klingental, Basel; Aargauer Kunsthaus, Aarau

Domaines recherchés: 
Art + Culture, Activités de courte durée

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Personne(s) de contact: 

Bern Schneider 
Kunst / Kultur
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